Zusammenfassung Klostermedizin

Der Beginn des europäischen Mittelalters ist auch der Anfang einer neuen kirchlichen Institution. Es sind die Klöster, in denen sich die vorher vagabundierenden Mönche vereinigten. In erster Linie sollten die abgeschlossenen Zirkel der Einkehr und Kontemplation dienen. Das Gebot der Barmherzigkeit galt innerhalb der Gemeinschaft aber auch gegenüber Nicht-Brüdern und -schwestern. Die „Caritas“ setzten die Mönche und Nonnen nicht nur in der Fürsorge für kranke Ordensmitglieder um. Das „Infirmarium“ war zunächst eine Krankenstation für das Kloster, denn die „kranken Brüder sollen einen eigenen Raum haben und einen eigenen Pfleger“ hatte der Heilige Benedikt festgeschrieben. Bald schon entwickelte sich aus dem Infirmarium ein öffentliches Krankenhaus. Unentgeltlich nahmen die Ordensleute die Kranken auf, die oft sehr arm waren und nun hinter den Klostermauern medizinische Versorgung erhielten.
Die Klostermedizin war von Anbeginn an in das überwiegend autarke System des Klosters eingebunden. Im Klostergarten bauten die Nonnen und Mönche Obst und Gemüse an, die Kräuterbeete lieferten die Rohstoffe für die Apotheke des Spitals. Der Sankt Gallener Klosterplan ist ein sehr frühes Dokument, das dieses Lebens- und Arbeitsumfeld deutlich macht. Aus den Schriften der antiken Vorbilder wie Dioskurides, Hippokrates, Galen und Demokrit entwickelten die monastischen Ärzte Enzyklopädien. So dienten die „Physica Plinii“ und der „Dioskurides“ als Vorlage für kurze Traktate. Dabei handelte es sich um sorgsam abgeschriebene Texte, die sozusagen als Flugblätter in die entlegensten Klöster getragen wurden. Auf diese Weise breiteten sich die Kenntnisse über Heilpflanzen und Rezepte in Europa aus. Pharmazeutische Techniken wie die Destillation und die Salbenbereitung waren zunehmend Standardmethoden in den klösterlichen Apotheken.
Das Wissen der Klostermedizin resultierte seit der Antike überwiegend aus der Alltagserfahrung der Heilkundigen. Die Wege solcher Erkenntnisse waren schwierig und zeitraubend. Daher war schon im Altertum das Bedürfnis groß, Erklärungen für die Ursachen von Krankheiten und deren Heilung zu finden. Denn aus einer zusammenhängenden Gesundheitslehre ließen sich weitere Therapien ableiten. Das folgerten schon die großen Ärzte der Antike. Eine umfassende Theorie der Medizin entwickelte sich schon früh in Gestalt der Vier-Säfte-Lehre des Galen von Pergamon. Er griff die Ideen der Hippokratiker und des Empedokles auf und führte sie zur Reife. Als „Humoralpathologie“ war die Vier-Säfte-Lehre spätestens seit dem Hochmittelalter auch die allgemeingültige Sichtweise der Klostermedizin.
In Anlehnung an die Elementenlehre des Kosmos nahmen die Mediziner und Biologen des Mittelalters den Körper als Wesen mit vier Urkräften an. Das war die Basishypothese der Humoralpathologie. Sie lehrte das Vorhandensein und Wirken von vier „Säften“ im Menschen. So entsprach der Saft Blut dem Element Luft, gelbe Galle war dem Feuer zugeordnet, schwarze Galle war gleichbedeutend mit dem Element Erde und Schleim sah man als Wasser-Analog an. In ähnlicher Weise versuchten die Theoretiker ihrer Zeit innerhalb dieses Schemas die Vierteilung auf bestimmte Eigenschaften anzuwenden. Die vier Charaktere, vier Farben, die vier Geschmacksrichtungen, die vier Lebensabschnitte, sogar die vier Himmelrichtungen ließen sich in dem Schema jeweils einem Element, eben dem „Saft“, zuordnen. Wichtig für die Diagnostik war die organologische Herkunft der Säfte. Vier Organe postulierte die Humoralpathologie als ihre Ursprungsorte: Blut als Herzsaft, gelbe Galle kam aus der Leber, die schwarze Galle brodelte aus der Milz und Schleim entquoll dem Gehirn. Die Gesundheit eines Menschen bestimmte das Gleichgewicht dieser „elementaren“ Säfte. Krankheit bedeutete, dass ein Saft überschießend vorhanden war. Diesem Überschuss sollte dann eine Medizin entgegenwirken. Die Eigenschaft des überschüssigen, krank machenden Körpersaftes konnte nur ein Heilkraut neutralisieren, das folglich eine konträre Qualität aufweisen musste. Nahm beispielsweise eine Krankheit im Gehirn ihren Ausgang, verursachte der feuchte, kalte Schleim die Beschwerden. Ein trocknendes und wärmendes Mittel wie Melisse oder Thymian war dann angezeigt.
Das Gleichgewicht der Körpersäfte sahen die Heilkundigen freilich nur als Idealzustand an, der ohnehin so nicht vorkommen konnte. Das war schon dadurch gegeben, dass jeder Körpersaft durch einen gewissen Überhang zur Ausprägung einer der vier Charaktere führen sollte. Der schwermütige Melancholiker produzierte schwarze Galle im Übermaß, den Sanguiniker machte sein „Blutüberschuss“ heiter, der unsichere und wankemütige Phlegmatiker litt an überlaufendem „Gehirnschleim“ und der stürmische Choleriker „brannte“ vor gelber Galle.
Nun war die Mentalität eines Menschen an sich nicht behandlungsbedürftig, niemand wurde durch sein Temperament zum Patienten, dem die Ärzte Medikamente verordneten. Allerdings sollte aus der Sicht der Humoralpatholgen die Ernährung auf die geistige Konstitution ausgerichtet sein. Denn auch Lebensmittel und Gewürze hatten ja die Qualitäten der Elementenlehre. So veranlasste die Klostermedizin den Choleriker zum maßvollem Umgang mit Pfeffer und anderen schärfenden Ingredienzien. Überhaupt sollten Köche darauf achten, dass die Zubereitung die Eigenschaft der Nahrungsmittel milderte. Fisch als „feuchte und kalte“ Beigabe sollte der Küchenmeister „heiß und trocken“, also im Backofen garen. Auf diese Art gab es eine Vielzahl an Vorschriften, die zur Erhaltung der Gesundheit beitragen sollten. Rat wusste immer der Mönchsarzt der Klosterheilkunde.
Die prophylaktische Gesundheitsvorsorge durch die Ernährung gehört ebenfalls zum antiken Erbe der monastischen Heilkunst. Ursprung war eine Kernaussage des Hippokrates zur Ernährung: „Die Nahrungsmittel sollen Eure Heilmittel und die Heilmittel sollen Eure Nahrungsmittel sein.“ Aktualität hat der Lehrsatz bis heute, die Klosterheilkunde rette ihn bis in unsere Tage hinüber.
Hildegard von Bingen war in ihrer Zeit wegweisend. Die „Meisterin vom Rupertsberg“ befasste sich im Rahmen ihrer umfassenden Studien auch mit Heilpflanzen. Sie scheute sich dabei nicht, über die Klostermauern hinweg zu schauen. Hildegard nutzte die Volksmedizin als Quelle für ihre medizinischen Abhandlungen. So gelang es ihr, das Wissen der Klosterheilkunde deutlich zu erweitern und mit uralten Erfahrungen aus der Mitte der Gesellschaft zu verbinden. Etwas anderes wagte die selbstbewusste Ordensfrau außerdem: Auf dem Höhepunkt des Mittelalters verwendete sie die deutschen, volkstümlichen Namen der Pflanzen, die sie als Heilmittel auflistete. Damit verstieß sie gegen ein Tabu. Denn Latein war die exklusive Sprache der Kirche und der Wissenschaft.
Hildegard von Bingen hatte es vorweggenommen. Zum ausgehenden Mittelalter, zunehmend dann um den Wendepunt zur Neuzeit, übersetzten viele Autoren die lateinischen Enzyklopädien der Klosterheilkunde in moderne Sprachen. Zwar kamen weniger neue Erkenntnisse hinzu, jedoch sind die Ergebnisse nicht minder zu schätzen. Die „Leipziger Drogenkunde“ ist das Beispiel einer solchen „Kräuter-Kompilation“. Sie beruht auf einer gezielten Auswahl alter Quellen. Diese und viele andere, in neue Sprachen übersetzte Kräuter-Kompilationen führten nun zu einer weiteren Verbreitung der Klostermedizin.